Montagsdemo Zeitz - Offener Runder Tisch Zeitz

Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. (Karl Marx)

Jahrgang 3 + Nr. 09 + 1. September 2011

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Herausgegeben von "Offener Runder Tisch Zeitz"

Inhalt:

  1. Neue Regelbedarfe wirklich verfassungskonform?

Neue Regelbedarfe wirklich verfassungskonform?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dem Gesetzgeber aufgegeben, die Leistungen nach dem SGB II neu zu ermitteln. Grundlage und Methode der Leistungsbemessung seien zu überprüfen und es sei zu klären, ob der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten Verfahren realitätsgerecht und nachvollziehbar auf Grundlage verlässlicher Daten und schlüssiger Berechnungen bemessen hat. Dies sei nach Auffassung der Bundesregierung nun geschehen. Jedoch wurden schon während des Gesetzgebungsverfahrens hieran erhebliche Zweifel geäußert.

Bei der Ermittlung des Regelbedarfs soll auf die Lebenshaltungskosten unterer Einkommensgruppen abgestellt werden und die Orientierung am Verbraucherverhalten auf statistischer Basis den physischen und soziokulturellen Bedarf abbilden. Die Wahl der Referenzgruppe erlangt dabei erhebliche Bedeutung. Das BVerfG hat gebilligt, die Verbrauchsausgaben der untersten 20 % der Haushalte zugrunde zu legen. Ferner hat es gefordert, Hilfeempfänger vorweg aus dieser Gruppe auszuscheiden, damit nicht das Verbrauchsverhalten der Hilfeempfänger zur Grundlage der Bedarfsermittlung für Hilfeempfänger gemacht wird. Trotzdem werden Personen in der Referenzgruppe belassen, deren Bezüge unter der Sozialhilfeschwelle liegen (z. B. BAföG-Berechtigte). Dies führt zu einer ungerechtfertigten Senkung des Durchschnittsbedarfs.

Als zu berücksichtigende Haushalte werden auch solche gewichtet, die im Erhebungszeitraum zusätzlich Erwerbseinkommen bezogen, das nicht als Einkommen berücksichtigt wurde. Auch dies ist verfassungswidrig, denn die Freibeträge decken in vielen Fällen lediglich die durch die Arbeit entstehenden Mehraufwendungen ab und sind kein die tatsächliche Lebenslage verbesserndes Einkommen. Insoweit sind dies Haushalte von (nicht zu berücksichtigenden) Hilfeempfängern. Auch wurden verdeckt Arme nicht herausgerechnet. Es wird geschätzt, dass ca. 40 % der Berechtigten existenzsichernde Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen.

Der Gesetzgeber sieht nunmehr für Alleinstehende und Familien unterschiedliche Referenzeinkommensbereiche vor. Von den Einzelpersonenhaushalten werden die unteren 15 %, von den Familienhaushalten die unteren 20 % der Haushalte herangezogen. Die unterschiedlich gezogenen Grenzen genügen nicht der gerichtlichen Anforderung, wonach die Referenzgruppe möglichst breit zu fassen ist - zudem sind die Grenzziehungen willkürlich.

Die dem Gesetz nun zugrunde liegende Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) wird den Vorgaben des BVerfG nicht gerecht und bietet keine taugliche Datengrundlage. So sind Auffälligkeiten beim Zahlenmaterial zu finden, die unüberprüft bei der Berechnung übernommen wurden. 1.678 Haushalte werden von der EVS erfasst, davon hatten 3 Haushalte keine Ausgaben für Nahrungsmittel! Das führt zu einer Verschiebung von 112,41 € auf 112,12 €, da bei der Berechnung jeweils der Durchschnitt einschließlich der Nichtverbraucher ermittelt wird,

Die zu ermittelnden Werte können nicht zuverlässig aus der EVS abgeleitet werden, da lediglich das Konsumverhalten von Haushalten - nicht der Bedarf - gemessen wird. Können arme Haushalte Bedarfe nicht decken, werden diese auch in der EVS nicht abgebildet. Das Verfahren zur Ableitung des Regelbedarfs aus der EVS wurde zudem nicht ausreichend transparent durchgeführt, maßgebliche Anforderungen an die Auswertungen nicht ausreichend begründet. Die verlangte vollständige Offenlegung der Berechnung ist nicht ausreichend erfolgt. Ergebnisse der EVS einzelner Konsumbereiche wurden bei geringer Fallzahl der Stichprobe nicht veröffentlicht, gleichwohl aber in nicht überprüfbarer Weise in die Berechnung des Regelbedarfs mit eingerechnet. Es wird lediglich behauptet, dass Angaben wegen der geringen Fallzahl nicht valide seien und Werte vom Statistischen Bundesamt nicht veröffentlicht werden. Somit sind solche Werte nicht nachprüfbar.

Als gravierender Mangel erweist sich auch die Vermischung des Statistik- mit dem Warenkorbmodell. Mit Hilfe des Statistikmodells wird ermittelt, welche Ausgaben die Haushalte tatsächlich haben. Dieser Wert wird jedoch nicht als Grundlage für die Bemessung des Regelbedarfs genommen, sondern eine Vielzahl von Positionen wird herausgerechnet. Rechnerisch wurden Ausgaben von 843,27 € ermittelt, hiervon sind die Unterkunftskosten von 340,01 € abzuziehen; es verbleiben 503,26 €. Die festgelegte Regelsatzhöhe: 364 €/monatl. - eine Reduzierung um gut 139 €! Zwar hat das BVerfG grundsätzlich nicht ausgeschlossen, Abschläge von Positionen der EVS mit der Begründung vorzunehmen, dass es sich nicht um regelleistungsrelevanten Verbrauch handelt. Hierbei sei jedoch eine wertende Entscheidung vorzunehmen, die der Gesetzgeber sachgerecht und vertretbar zu treffen hat. Dabei ist zu gewährleisten, dass verbleibende Bedarfe der verfassungsrechtlichen Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums entsprechen. Nicht beachtet wurde auch, dass der Regelbedarf es ermöglichen muss, überdurchschnittlichen Bedarf in einer Position durch unterdurchschnittlichen Bedarf in einer anderen Position auszugleichen. Angesichts der Größenordnung der Abschläge scheint dies nicht mehr gewährleistet.

Leistungsberechtigte werden vom statistisch belegten Konsumverhalten selbst unterster Einkommensgruppen ausgeschlossen. Vorgenommene Abschläge treffen immer auch Personen, die diese Ausgaben nicht haben. So haben z. B. von 1.678 Haushalten nur 433 Personen Ausgaben für Tabak (durchschnittlich 41,88 €), was aufgrund der Zurechnung auf alle Personen zu einem durchschnittlichen Verbrauch von 11,08 € führt. Dieser Betrag wird bei allen Leistungsberechtigten gekürzt. Alkohol und Tabak seien nicht existenzsichernder Grundbedarf. Dies entspricht aber nicht den Vorgaben des BVerfG, denn die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung des Existenzminimums dürfe sich danach gerade nicht nur auf das "nackte Überleben" beschränken, sondern müsse auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Selbst die Drogenbeauftragte der Bundesregierung bekundete, dass Alkohol und Tabak nach der Lebensrealität zum gesellschaftlichen Leben gehören und der Ausschluss solcher Anteile aus den Leistungsbedarf erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Der Konsum von Bier und Wein und die Inanspruchnahme von Gaststättenleistungen seien oft Bestandteil einer regionalen Kultur. Durch die fehlende Berücksichtigung würden Betroffene aus einem zentralen Bereich der Teilhabe am Leben ausgegrenzt.

Der untaugliche Versuch, die fehlende Berücksichtigung von Alkohol auszugleichen, wird insbesondere dadurch deutlich, dass anstelle von Alkohol ein Betrag in Höhe von 2,99 € für Mineralwasser aufgeschlagen wurde. Es wird jedoch nicht begründet, weshalb Bier gerade durch Mineralwasser und nicht durch alkoholfreies Bier oder Säfte ersetzt werden muss - dann wäre nämlich keine Reduzierung mehr möglich gewesen. Für Tabak wird kein Ersatz berücksichtigt, obwohl es der Lebensrealität entspricht, dass Tabak bei unteren Einkommensschichten auf Kosten anderer Verbrauchspositionen konsumiert wird. Wenn dies aber so ist, hätte bei der geforderten sachgerechten Ermittlung der nach der Lebensrealität ausgegebene Betrag für Tabak an anderer Stelle der Verbrauchspositionen eine Berücksichtigung finden müssen. Denn das BVerfG forderte, dass der Regelbedarf nach dem tatsächlichen Bedarf zu bemessen sei, sodass der Konsum eines gewissen Maßes von Genussmitteln zur Alltagskultur der großen Mehrheit der Gesellschaft gehört.

Ein besonders hoher Abschlag erfolgt auch bei Gaststättenleistungen. Aus der EVS ergibt sich, dass hierfür pro Ein-Personen-Haushalt Ausgaben in Höhe von 25,12 € getätigt werden, regelsatzrelevant werden aber nur 7,16 € berücksichtigt. Begründet wird dies damit, dass es sich hierbei nicht um regelbedarfsrelevante Ausgaben handelt, da auswärtige Verpflegung nicht zum physischen Existenzminimum zähle. Dem BVerfG ging es jedoch nicht um die Befriedigung lediglich des physischen Existenzminimums. Der Gaststättenbesuch diente schon immer der Befriedigung sozialer und physischer Bedürfnisse; politisch oder ehrenamtlich motiviertes Engagement nutzt oft Gaststättendienstleister, um sich zu organisieren. Ohne die Möglichkeit des Besuchs solcher Örtlichkeiten werden Leistungsbezieher von wichtigen gesellschaftlichen Engagements ausgeschlossen. Zudem müssen Personen, die nicht auswärts essen, eine Reduzierung ihres Regelbedarfs um 17,96 € hinnehmen.

Die Bundesregierung sieht auch Ausgaben für Garten, Camping und Pauschalreisen als nicht regelbedarfsrelevant an. Die Benutzung eines Gartens bei Hauseigentümern, Personen in Mietwohnungen und solchen, die sich einen Kleingarten gemietet haben, gehören jedoch zum soziokulturellen Existenzminimum, also zur vom BVerfG geforderten Teilhabemöglichkeit am Leben in der Gesellschaft. Weitere fehlende Ausgabenpositionen wurden bei der Berechnung des Regelbedarfs ebenfalls in sachwidriger und argumentativ unzureichender Weise nicht berücksichtigt - z. B. Ausgaben für chemische Reinigung, Anfertigung und Reparaturen von Heimtextilien, Mobilfunktelefon, Schnittblumen und Zimmerpflanzen. Begründung: nicht existenzsichernd und nicht regelbedarfsrelevant.

Ausdrücklich gegen die Vorgabe des BVerfG verstößt auch die Berechnung des Bedarfs für Verkehr. Zwar hatte das Gericht einen Abschlag für privat genutzte Kfz für zulässig gehalten, dadurch könnten aber bei der Einsparung der Kosten eines Kfz die Kosten des Hilfebedürftigen für öffentlichen Personenverkehr ansteigen - dies ist in der "Berechnung" der Bundesregierung jedoch nicht geschehen. Personen, die ein Auto fahren, wurden stattdessen herausgerechnet; von 1.678 erfassten Haushalten haben 340 keine Kosten für Verkehr. Da diese Personen in die Durchschnittsberechnung hineingerechnet werden, ergibt sich eine Verfälschung; bei verfassungskonformer Berechnung hätte sich ein Wert von 26,35 € ergeben. Durch die fehlerhafte Berechnung der Bundesregierung ergibt sich eine verfassungswidrige Reduzierung des Regelbedarfs um 3,57 €.

Nach dem Willen des Gesetzgebers gehören Stromkosten immer noch nicht zu den KdU. Ausgehend von einem Ein-Personen-Haushalt kommt die Bundesregierung zu einem Betrag von 26,80 €/Haushalt als Bedarf für Strom. Statistisch verbraucht ein 1-Personen-Haushalt jährlich 1.700 kWh; der Preis betrug statistisch 2010 durchschnittlich 0,2369 €/kWh. So ergeben sich für einen 1-Personen-Haushalt jährlich 394,57 €; das ergibt monatlich 32,88 €.



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