Montagsdemo Zeitz - Offener Runder Tisch Zeitz

Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. (Karl Marx)

Jahrgang 5 + Nr. 06 + 3. Juni 2013

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Herausgegeben von "Offener Runder Tisch Zeitz"

Inhalt:

  1. Interview mit Inge Hannemann über Sanktionen
  2. Hartz-IV-Bezieher sind nicht faul
  3. Neusprech / Sprachlügen / Unworte: 1. Arbeitgeber

Interview mit Inge Hannemann über Sanktionen

Sie haben sich geweigert, Sanktionen gegen ihre "Kunden" zu verhängen. Weshalb?

Inge Hannemann: Sanktionen stellen für mich grundsätzlich erst mal eine existenzielle Bedrohung für den Erwerbslosen dar. Der derzeitige Regelsatz ist zu niedrig und ersetzt die frühere Sozialhilfe. Es ist eine Grundsicherung, die auch nach dem Bundesverfassungsurteil von 2010 nicht unterschritten werden soll und darf. Mit einer Sanktion unterschreite ich diese jedoch. Der Ausgleich von sogenannten Kann-Sachleistungen wie die Lebensmittelgutscheine sind demütigend und ersetzen niemals ein frei zur verfügendes Bargeld.

Die Betroffenen haben somit keine Möglichkeiten mehr öffentliche Verkehrsmittel oder alltägliche Dinge wie Friseur, Kopien für Bewerbungen und so weiter zu bezahlen und müssen diese trotz allem weiter vorweisen oder ohne Geld für die Fahrkarte zu den Meldetermine erscheinen. Ein Kreislauf, der durch die Erwerbslosen in diesem Moment nicht zu durchbrechen ist. Sie werden damit aus der Gesellschaft bewußt ausgegrenzt.

Auch dieses ist ein Verstoß gegen das genannte Bundesverfassungsurteil, in dem eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gefordert wird. Weiterhin erzeugt der Druck von Sanktionen ein sehr großes Machtgefälle zwischen der Arbeitsvermittlung oder dem Fallmanagement und den Erwerbslosen. Dieser Druck führt zur Erpreßbarkeit des Betroffenen und erzeugt Gegendruck. Dieser äußert sich je nach subjektiver Wahrnehmung und Prägung des Einzelnen in unterschiedlichste Art und Weise und kann zu psychosomatischen und psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Traumata, extreme Schlafstörungen oder Verstärkung von vorhandenen Leiden führen.

Menschen reagieren hier sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist jedoch, daß Reaktionen beim Erwerbslosen durch den Druck hervor gerufen werden. Bei manchen lauter, wie in verbalen Äußerungen oder aktiven Aktionen mit Hilfe von Anwälten, bei manchen leiser, wie das Verfallen in Lethargie, weil keine Kraft mehr für eine Gegenreaktion vorhanden ist.

Wie haben Ihre Kollegen auf Ihr Verhalten reagiert?

Inge Hannemann: Bundesweit erhalte ich durch Kollegen Zuspruch per Mail oder persönlichen Nachrichten über die sozialen Netzwerke. Meine Kollegen im Jobcenter Altona verhalten sich bedeckt und werden zum Teil durch Aussagen des Personalrats-Vorsitz bei Personalversammlungen eingeschüchtert, in dem ihnen verboten wird, mit der Presse zu reden oder Internes nach Außen zu bringen.

Dies teilten mir Kollegen aus den Hamburger Jobcentern mit. Solidarität zeigen sie, in dem sie mir Emails oder Informationen aus dem Intranet weiter leiten. Aus Berichten von Erwerbslosen ist mir bekannt, daß in den Jobcentern bei den Sachbearbeitern über mich diskutiert wird, und ich durchaus eine breite Zustimmung erhalte.

Allerdings herrscht vorwiegend die Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes vor, wenn sie sich öffentlich zu mir bekennen. Es ist erschreckend zu sehen, wie das Angstklima auf beiden Seiten des Schreibtisches gelenkt wird. Gesteuert wird dieses durch die einzelnen Standortleitern in den Jobcentern. Aber ich erhielt auch Mails von Standortleitern, die sich mit dem gesamten Jobcenter mit mir solidarisieren.

Gibt es Vorgaben von Seiten der Jobcenter, ein gewisses Kontingent an Sanktionen zu verhängen und was sind hierfür die Gründe? Gibt es für die herrschende Sanktionspraxis politische Vorgaben?

Inge Hannemann: Für uns Sachbearbeiter gibt es die subtilen Aussagen durch die Teamleitungen, daß wir darauf achten sollen, daß die Sanktionsanhörungen zeitlich verfolgt werden müssen, damit die Sanktionsverfügung nicht vergessen wird. Auch achten Kollegen in Vertretung darauf, daß nach der Anhörung auch eine Sanktion durchgeführt wird.

Gerne hat man dann mal eine interne Wiedervorlage, in dem ein Kollege darauf aufmerksam macht, daß die Sanktion noch nicht eingeleitet wurde. Die Teamleiter haben im System eine Statistik, in der sie die Sanktionsquoten einsehen können. Diese ist nach einem "Ranking" der einzelnen Jobcenter in Bezug auf die Sanktionszahlen aufgebaut. Nur gute Quoten bringen gute Beurteilungen und helfen einen Schritt weiter auf der Karriereleiter.

Die Jobcenter sind zur Wirtschaftlichkeit angehalten. Da sie keine Produkte verkaufe, geht das nur, indem sie Gelder einsparen. Und eingespart werden kann nur durch die Kürzungen von Leistungen auf kommunaler Ebene in Form von Reduzierung der Mietkosten und auf Bundesebene durch die Kürzung der Regelleistung oder der Verweigerungen von Qualifikationen und Umschulungen.

Wie viele Arbeitslose schätzen Sie als sanktionswürdig ein?

Inge Hannemann: Aus meiner persönlichen Sicht, ist kein Erwerbsloser sanktionswürdig, so lange man bereit ist, die tatsächlichen Ursachen für ein Meldeversäumnis oder aufgrund mangelnder Mitarbeit zu suchen. Und das ist auch unsere Aufgabe, welches sogar nach dem Sozialgesetzbuch X durch die §§ 20 und 21 geregelt ist. Gehe ich nach der Hetze in den Medien über den "faulen Hartzer", kann aus eigener Erfahrung von höchstens 3 Prozent gesprochen werden.

Aber auch hier muß darüber nachgedacht werden, warum dieser Erwerbslosen so geworden sind. Jede Gesellschaft muß in der Lage sein, auch solche Menschen zu tragen. Diese finden sich auch im Erwerbsleben und werden durch die Kollegen "mitgeschleppt". Es ist von dem her also keine außergewöhnliche Erscheinung, die nur bei Hartz IV-Empfängern vorkommt.

Hartz-IV-Bezieher sind nicht faul

Bei vielen Bürgern hält sich hartnäckig das Vorurteil, Hartz IV-Bezieher würden nicht arbeiten wollen und aus Überzeugung in der sozialen Hängematte liegen. Laut einer Umfrage des Allenbach-Instituts glaubt das inzwischen etwa jeder Dritte in Deutschland. Doch das Bild, das von der Boulevardpresse und der Politik erzeugt wird, stimmt nicht annähernd mit den Realitäten überein. Eine aktuelle Studie des hauseigenen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit untersuchte das Vorurteil und verglich es mit den Tatsächlichkeiten und kam zu dem Ergebnis, daß die Jobsuche nicht an der fehlenden Motivation scheitert.

Hartz IV-Bezieher, die keine Arbeitsstelle haben wollen, seien "Einzelfälle" wie selbst Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, in einem Interview mit der Zeitschrift "Die Welt" einräumen mußte. "Meiner Meinung nach gibt es nur wenige Menschen, denen es ohne Arbeit gut geht. Und das meine ich nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten", sagte er. Trotz dieser Kenntnis hält auch die Bundesagentur für Arbeit an der verfassungswidrigen Sanktionspraxis fest. Zwar wurden in 2012 über eine Million Leistungskürzungen aufgrund angeblichem Fehlverhaltens ausgesprochen. "Die wenigsten allerdings, weil Betroffene eine Ausbildung oder ein Arbeitsangebot abgelehnt hätte", so Alt.

Die vorgelegte Studie des Instituts untersuchte, wie es um die Arbeitsbereitschaft der Erwerbslosen bestellt ist. Dabei kam heraus, daß etwa 30% der 15- bis 64-Jährigen bereits in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt ist. Rund 10% gehen einer Ausbildung nach und etwa 10% absolvieren eine Fördermaßnahme des Jobcenters. Weitere 12% sorgen sich um ihre Kleinkinder und etwa 7% pflegten Pflegebedürftige Angehörige. Somit arbeiten, pflegen oder betreuen bereits 70% der Hartz IV-Betroffenen und sind somit nicht explizit verpflichtet eine Arbeitsstelle zu suchen.

Dennoch wollen die allermeisten Leistungsbezieher unbedingt eine Arbeitsstelle finden, wie es in der Studie heißt. Die Motivation sei sogar höher als bei denen, die bereits eine Arbeitsstelle haben. 76% sagten bei der Umfragestudie, daß die Arbeit mitunter das Wichtigste sei im Leben. 80% sagten sogar, daß sie arbeiten würden, auch wenn sie es finanziell nicht nötig hätten. Problembehaftet sei vielmehr die Jobsuche selbst. Etwa zwei Drittel der Befragten gaben an, in den letzten 4 Wochen aktiv nach einem Arbeitsplatz gesucht zu haben. Etwa 350.000 Betroffene, die nicht nach einem Job Ausschau hielten, gaben an, dies aus gesundheitlichen Gründen nicht getan zu haben. Eine weitere Ursache sei, so die Studie, daß viele Absagen zu einer Art Entmutigung beigetragen hätten.

Eine fehlende Motivation zur Arbeit ist nach Meinung der Autoren der Studie nur den allerwenigsten vorzuwerfen. Einige hätten erklärt, daß ein Job nicht positiv zur finanziellen Lage beitragen würde. In einem Interview sagte der BA-Vorstandschef Alt: "Ich treffe in den Jobcentern oft Menschen, die sagen, daß das Herumsitzen sie krank macht, die das Gefühl vermissen, gebraucht zu werden und die so sehr auf ein Erfolgserlebnis hoffen."

Laut einer Auswertung der Universität Duisburg-Essen ist jeder Dritte im Hartz IV-Bezug ein sog. "Aufstocker". Das bedeutet, die betreffende Person verdient zu wenig, um das Existenzminimum zu überschreiten. Rund 1,3 Millionen Menschen hätten zu dieser Gruppe gehört, so die Forscher. Aufstocker sind in 44% der Fälle sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Jeder Zweite hat eine Vollzeitstelle. Zudem sind viele Aufstocker Minijobber oder Selbstständige, die zu geringe Einnahmen erwirtschaften.

Für die Studie wurden die eigenen Daten der Bundesagentur für Arbeit ausgewertet. Für die Studie "ALG II-Bezug ist selten ein Ruhekissen" wurden Umfragen von Arbeitslosengeld II-Empfängern im Rahmen des Panels "Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung" (PASS) ausgewertet.

Neusprech / Sprachlügen / Unworte
1. Arbeitgeber

"Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das ,Kapital' den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z.B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird." Den Satz schrieb Friedrich Engels im Vorwort zur dritten Auflage von Karl Marx' "Kapital". Geholfen hat es nichts, das Kauderwelsch ist inzwischen gang und gäbe, überall ist vom A. die Rede. Der klingt, als würde er der Welt einen Gefallen tun, wenn er den Menschen mit all ihrer überschüssigen Arbeitskraft großzügig die Möglichkeit gibt, sich an Arbeitsplätzen abzuarbeiten. Folgerichtig heißt der, der sich dort abarbeiten darf, dann auch → Arbeitnehmer. Für Marx selbst war Arbeitskraft ganz nüchtern eine Ware, die von dem einen verkauft und von dem anderen gekauft wird. Die sich jedoch überhaupt nur auf dem Markt befindet, weil der Anbieter keine anderen Waren verkaufen kann - also gezwungen ist, seine Arbeitskraft gegen Geld zu tauschen. Irgendwie haben es deutsche Firmenchefs und Politiker geschafft, dieses Verhältnis sprachlich umzudrehen. Die, die hier ,nehmen', haben gar keine andere Wahl, als jeden Tag eben jenem Verkauf ihrer Kraft zuzustimmen. Und im Übrigen auch nur wenig Einfluß darauf, wie hoch der Preis dafür ist.

Quelle: http://neusprech.org/arbeitgeber/



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